Die europarechtliche Pflicht zur Zeiterfassung – Vorwärts in die Vergangenheit !

Am 15. Mai 2019 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, die europäische Arbeitszeit-Richtlinie (RL 2003/88/EG) verpflichte die Mitgliedsstaaten, die generelle Erfassung der Arbeitszeiten aller Arbeitnehmern sicherzustellen (EuGH 14. Mai 2019 - C-55/18). Das deutsche Recht sieht eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nur in Ausnahmefällen vor. Insbesondere vor dem Hintergrund des derzeitigen Trends zur Flexibilisierung von Arbeit („Arbeit 4.0“; Home Office etc.) erscheint die Entscheidung des EuGH rückwärtsgewandt. Im Folgenden werden die Auswirkungen der Entscheidung dargestellt.

 

1. Keine allgemeine Pflicht zur Zeiterfassung nach deutschem Recht

 

Nach deutschem Recht gibt es derzeit keine allgemeine Pflicht zur Zeiterfassung. Zwar ist es für Arbeitgeber, insbesondere bei Vergütung nach Stunden, zweckmäßig, Arbeitszeiten zu dokumentieren, etwa um Streit über die Reichweite von Vergütungsansprüchen vorzubeugen. Vorgeschrieben ist eine Zeiterfassung jedoch nur ausnahmsweise:

 

Das ist etwa der Fall, soweit die Arbeitszeit über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgeht (§ 16 Abs. 2 ArbZG). Das umfasst insbesondere Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen. Eine Form ist für die Zeiterfassung nicht vorgeschrieben. Sie kann händisch oder elektronisch erfolgen und insbesondere auf Arbeitnehmer delegiert werden.

 

Weitere Aufzeichnungspflichten ergeben sich aus dem Mindestlohngesetz (§ 17 Abs. 1 MiLoG). Danach sind die Arbeitszeiten geringfügig Beschäftigter (§ 8 Abs. 1 SGB IV) ebenso zu dokumentieren wie die von Arbeitnehmern in den in § 2a des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes genannten Wirtschaftsbereichen. Das sind insbesondere das Bau-, das Gaststätten-, Beherbergungs-, Personenbeförderungs-, Speditions- und Logistik-, Schausteller- und Gebäudereinigungsgewerbe. Allerdings bezieht sich die Dokumentationspflicht nur auf solche Arbeitnehmer, die in der Regel höchstens EUR 2.958 brutto beträgt (§ 1 MiLoDokV).

 

2. Bedeutung der Entscheidung des EuGH

 

Der EuGH hat entschieden, dass die Mitgliedsstaaten ein System einrichten müssen, „mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“. Es müsse sich um die „Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“, handeln. Die Entscheidung bezieht sich auf alle Arbeitnehmer. Insofern ist offensichtlich, dass die unter 1. dargestellte deutsche Gesetzeslage diesen Anforderungen nicht gerecht wird.

 

a) Keine unmittelbare Wirkung

 

Allerdings wirkt sich die Entscheidung des EuGH nicht unmittelbar auf die deutsche Rechtslage aus. Sie bezieht sich auf eine Richtlinie. Richtlinien sind grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern bedürfen der Umsetzung. Insofern wird der nationale Gesetzgeber die Entscheidung dahin gehend umsetzen müssen, dass er die nationalen Pflichten zur Arbeitszeiterfassung in § 16 Abs. 2 ArbZG anpasst.

 

Arbeitgeber sollten sich insofern darauf einstellen, dass in relativ absehbarer Zukunft die Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer dokumentiert werden müssen.

 

b) „Objektives“ System

 

Problematisch ist, dass der EuGH ein „objektives“ Zeiterfassungssystem gebietet. Es stellt sich deshalb die Frage, ob etwa die weitgehend übliche händische Zeiterfassung weiter genügen wird (Bayreuther, EuZW 2019, 446; Ulber, NZA 2019, 677; Fuhlrott/Garden, ArbRAktuell 2019, 263). Das händische System dürfte insofern nur subjektiv und nicht objektiv sein.

 

Der deutsche Gesetzgeber wird deshalb vor einer wegweisenden Entscheidung: Trifft er eine Regelung, die nur noch automatisierte Zeiterfassungssysteme erlaubt, hätte das äußerst weitreichende Folgen. Es kämen erhebliche finanzielle und organisatorische Belastungen auf Unternehmen zu. Etwa im „Home Office“ wäre unklar, wie die automatisierte Zeiterfassung implementiert werden soll. Entscheidet der Gesetzgeber, die händische Zeiterfassung weiter zu erlauben, geht damit das erhebliche Risiko einher, dass das Gesetz europarechtswidrig ist. Als Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats käme dann nur in Betracht.

 

c) Mitbestimmung des Betriebsrats

 

Sollte der Gesetzgeber zukünftig nur noch elektronische Zeiterfassungen erlauben, hätte der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 (technische Überwachung). Andernfalls lediglich eines aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG (Ordnungsverhalten).

 

Im Übrigen haben richtigerweise Betriebsräte auf Grundlage der Entscheidung des EuGH nunmehr das Recht, initiativ die Einführung eines Zeiterfassungssystems vom Arbeitgeber zu verlangen.

 

3. Bewertung der Entscheidung

 

Die Entscheidung steht dem derzeitigen arbeitsrechtlichen Trend zur Flexibilisierung der Arbeit diametral entgegen.

 

Vertrauensarbeitszeit, flexible Arbeitszeit, Home Office – all diese Trends entfernen die moderne Arbeitswelt von der Vorstellung eines „9-to-5-Jobs“, wie er der Vorstellung des Gesetzgebers des Arbeitszeitgesetzes entsprach. Die Große Koalition sinniert derzeit über ein „Home Office“-Gesetz. Gerade im Home Office ist realistisch, dass ein Arbeitnehmer etwa acht Stunden arbeitet, diese acht Stunden aber in zahlreiche Abschnitte über 14, 16 oder 18 Stunden aufzuteilen. Insofern wird die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung immer mehr in Frage gestellt.

 

Die Entscheidung des EuGH, die zu einer generellen Zeiterfassungspflicht führen wird, wird diese Entwicklungen erschweren und stellt arbeitsrechtlich einen Schritt „vorwärts in die Vergangenheit“ dar. Sobald die Entscheidung umgesetzt ist, wird etwa ein Arbeitnehmer im „Home Office“, der im 30-Minuten-Rythmus arbeitet und pausiert, jede Arbeitsphase dokumentieren.

 

Dieses Dilemma könnte jedoch nur noch politisch auf europäischer Ebene gelöst werden. Rechtlich ist unabdingbar, dass die generelle Pflicht zur Arbeitszeiterfassung nur eine Frage der Zeit ist.

 

4. Empfehlung

 

Arbeitgeber sollten sich derzeit (nur) gedanklich darauf vorbereiten, dass in absehbarer Zeit die Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer erfasst werden müssen. Es ist auch durchaus zu befürchten, dass dies nur noch durch eine objektive, also automatisierte Zeiterfassungen zulässig sein wird und nicht mehr auf Arbeitnehmer zur händischen Erfassung übertragen werden kann.


Kontakt


Dr. DANIEL WEIGERT, LL.M. (Lund)

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht

 

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